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Einsam in der Dunkelheit (Teil 1)

EPISODE 8 Originaltext

In diesem ersten Teil der Martinsfeuer-Dilogie geht es um den beschwerlichen Aufbau des Brennmaterials. Warum ich dabei humpelnd durch Gebüsch zog und Paletten auf Lebzeit verfluchte, lest ihr in den folgenden Absätzen. Es wird empfohlen, beide Teile als Gesamtbild zu werten.

Samstag, 07:00 Uhr: Das erste, was ich vernahm, war eine Werbung für Zahnpasta. Der blaue LED-Bildschirm meines Radioweckers färbte mein gesamtes Zimmer. So begann ein jeder neue Tag. Ich stockte. Irgendjemand umschlang meinen Arm, irgendwer presste sich an mich. Nach genauerem Prüfen stellte sich heraus, dass es sich bei dieser „Person“ lediglich um mein Kopfkissen handelte. Wer oder was sollte es auch sonst gewesen sein. Schlaftrunken tastete ich nach dem Lichtschalter neben meinem Bett. Erst nach Minuten erreichte ich ihn. Es wurde hell. Meine Augen schlossen sich verkrampft, schützend vor der ungewohnten Helligkeit. Ich stand auf, blickte auf die komplett verwüstete Deckenlandschaft auf meinem Bett. Hinter mir lag eine unruhige Nacht. Ich verließ mein Zimmer, schlich durch den dunklen Flur, griff nach meinem Handtuch, verschwand im Bad. Nach zwanzig Minuten fühlte ich mich wieder frisch und startete schwungvoll in den Tag.

Ausnahmsweise wollte ich an diesem Morgen frühstücken. Ich wusste genau, wie kräftezehrend der anstehende Tag werden würde. Vor zwei Wochen wurde ich beauftragt, beim Aufstellen des Martinsfeuers zu helfen. Schon seit Jahrhunderten war es von Generation zu Generation Tradition, dass Kinder und Erwachsene mit Laternen und Fackeln am Martinstag nach der Kirche zu einem großen brennenden Haufen am anderen Ende des Dorfes pilgerten. Dieser Haufen sollte unter anderem mit meiner Hilfe errichtet werden.

Um 10:00 Uhr sollte ich mich an der üblichen Stelle einfinden. Die Freiwilligen frugen jedes Jahr, ob ich auch helfen wolle, obwohl sie genau wussten, dass ich (wegen mangelnder Kraft und Kompetenz in haptischer Arbeit) nur die einfachsten Arbeiten übernehmen könnte. Der gute Wille zähle, wurde mir immer augenzwinkernd gesagt.

Mit Schmutz und Schweiß rechnend zog ich mir alte Klamotten an: Eine zu kurze Hose, ein grünes T-Shirt mit der Aufschrift „NATUR MACHT SPASS“ und einem großen weißen Smiley auf der Brust und ehemalige Wanderschuhe.

Das Wetter an diesem Tag war trist, feucht und ungemütlich. Trotzdem verzichtete ich auf eine Jacke.

Auf dem Weg zum Martinsfeuer zog ich alle Blicke auf mich. Grinsend wurde der betrachtet, der in solchen Lumpen gekleidet durch das Dorf zog. Gestört hat es mich nur bedingt, schließlich war es meine „Arbeitskleidung“ und die anderen Helfer werden ähnlich miserabel aussehen. Ich täuschte mich.

Am Treffpunkt angekommen erblickte ich ausschließlich Menschen in professioneller Schale: mit Hemd, Blaumann, Schirmmütze. Na ja, ich werde ohnehin nicht wirklich arbeiten. Der gute Wille zählt.

Ohne nennenswerte Verzögerung wurde mir die erste Aufgabe erteilt: Paletten für das Gerüst auspacken. Da standen sie: fünf aus zehn Paletten bestehende Stapel, zum Teil in Plastikfolie eingewickelt. Alle befanden sich in einem makellosem Zustand, bestanden aus jungem Holz, sahen komplett neu aus. All diese Einwegpaletten waren Abfall, Abfall von einer ansässigen Dämmstofffabrik. Gedanken über ökologische Aspekte konnte ich mir nicht machen, die Arbeit rief schließlich – und vielleicht war das auch besser so. Ich hob jede einzelne Palette vom Stapel, befreite sie von der Folie, schichtete sie wieder auf – eine ermüdende Arbeit. Nach einer Stunde langte ich am letzten Stapel an. Den hatte ich durch die anderen Paletten so verbaut, dass er unerreichbar in der Mitte lag. Kurzerhand entschloss ich mich, über einen Stapel zu klettern und von dort aus die letzte Etappe meiner Arbeit einzuleiten. Sicher und stabil wirkte der Berg aus Holz beim Besteigen nicht – und ich sollte damit recht behalten. Als ich auf der obersten Palette angelangt war und mich gerade zu dem eingepackten Stapel bewegen wollte, hörte ich ein entsetzliches Krachen. Zur gleichen Zeit stürzte mein rechtes Bein ins Innenleben des Holzbergs. Das Gleichgewicht verlierend fiel mein Oberkörper nach vorne – auf den eingepackten Stapel zu. In letzter Sekunde konnte ich mich mit meinen Händen abstützen. Hätte ich in dieser Situation auch nur eine Sekunde gezögert, zierte nun wahrscheinlich eine große Platzwunde die Stirn meines bewusstlosen Körpers.

Hastig machte ich die anderen Helfer, die drei gewaltige Stämme als Gerüst im Boden befestigten, auf meine prekäre Lage aufmerksam. Mit einigen Handgriffen wurde ich aus der Gefahrenzone geborgen. Alleine hätte ich mich nicht aus den Fängen der Paletten befreien können. Einer meiner Retter rief zu mir: „Den Stapel hättest du gar nicht auspacken müssen. Wir haben genug Paletten. Aber der gute Wille zählt.“

Mittagspause: Voller Kratzern, Dreck und unwohlen Gerüchen schleppe ich meinen erschöpften Körper nach Hause. Nach einem ausgiebigen Essen machte ich mich wieder auf den Weg zum Martinsfeuer. Dort hatten einige unermüdlich weitergearbeitet und präsentierten mit Stolz das Resultat: drei acht Meter hohe Stämme, die in den Himmel ragten, gesäumt von „meinen“ Paletten. Wie ein gigantischer Holztrichter sah das Erbaute aus. Welch ein majestätischer Anblick! Die letzten Stützen wurden befestigt (ich fungierte dabei als „Nagelanreicher“), dann ging es ans Befüllen. Durch die Schaufel eines Traktors wurden „gespendete“ Zweige, Äste, Holzreste und Hecken in das Konstrukt geschüttet. Alle Helfer verteilten im Inneren das Material gleichmäßig. Ich sammelte außen die Kleinteile auf, die die Schaufel nicht erfassen konnte, und warf sie in den Kessel.

Immer höher und höher stapelte sich die Füllung, immer gefährlicher wurde die Arbeit der Freiwilligen. Schlussendlich wurden sogar die höchsten Paletten überragt.

Einer der Helfer bat mich, in seinem Auto nach der Uhrzeit zu schauen. Um keinen Umweg gehen zu müssen, bahnte ich mir meinen Weg mitten durch angeliefertes Gestrüpp. Plötzlich ein stechender Schmerz im linken Fuß. Ich hob mein Bein und begutachtete den Untergrund: ein Holzbrett, woraus ein rostiger Nagel stach. Dieses Brett war einst Bestandteil einer Palette. Hinkend erreichte ich das Auto, saß mich auf den Fahrersitz, kontrollierte meinen Fuß. Glücklicherweise kam ich mit einer kleinen Verletzung davon. Als ich dem Helfer neben der Uhrzeit von meinem zweiten „Unfall“ berichtete, meinte ebendieser: „Ist ja nichts passiert. Der gute Wille zählt.“

Selten zuvor machte mich eine ähnliche Wendung in einer ähnlichen Situation innerlich so wütend.

Dieser Eintrag endet hier und wird dennoch in der nächsten Woche fortgesetzt. Der zweite Teil wird in einem deutlichen Kontrast zu diesem Beitrag stehen und Zusammenhänge bzw. versteckte Hinweise klären. Ihr könnt euch auf einen Nachdenktext freuen. Am Samstag wird dieser letzte Teil der Martinsfeuer-Dilogie veröffentlicht.

Bis dahin:

Auf baldiges Wiedersehen

S. Klein

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