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Ein Konfuser auf der Kirmes (Teil 2)

EPISODE 4 überarbeitet (2017)

Personen wie mich bei großen gesellschaftlichen Veranstaltungen zu finden, ist nicht nur überaus schwierig, sondern gemeinhin auch verhasst. Einmal im Jahr jedoch lockt die Kirmes mit bunten Buden, attraktiven Attraktionen und frittiertem Fraß zahlreiche Menschen auf die Straßen – so auch einen rationalen Konfusen. Was mir gegen Mittag auf dem Kirmesplatz widerfuhr, kann in jenem Beitrag gelesen werden. Abends wurde ich mit dem ungeheuerlichen Besuch einer Geisterbahn und Randalen auf dem „Break Dance“ konfrontiert. Wie ich mich dabei gegen Ungerechtigkeit auf der Kirmes auflehnte und warum man ein Buch nie nach seinem Einband bewerten sollte, ist im zweiten und somit letzten Teil der Jahrmarkt-Dilogie zu lesen.

Der Tag neigte sich allmählich dem Ende zu, der Horizont färbte sich in wunderschöne Farben, die ersten Budenbesitzer schalteten die Außenbeleuchtung an. Immer mehr Menschen tummelten sich nun auf den Straßen, immer größer wurden die Warteschlangen vor den großen Fahrgeschäften. Ein lauer Herbstwind blies über unsere Köpfe, spielte mit Ballons und Fahnen, die er harmonisch schaukeln ließ. Je später es wurde, desto fröhlicher und ausgelassener schienen die vorbeirauschenden Menschen zu werden. Diese besondere, fesselnde Atmosphäre des Herbstabends fernab der bunten Lichter nahmen die wenigsten wahr. Der Alkohol hatte wohl ganze Arbeit geleistet. Über Müll, Umweltbelastung und fragwürdige Preisleistungsverhältnisse machte sich nahezu niemand Gedanken.

Nachdem einige Mitglieder meiner Gruppe das Riesenrad besucht hatten, begaben wir uns zu einer Geisterbahn, dem „Monsterhaus“. Selbst in der abendlichen Harmonie sah das einstöckige Geschäft schlicht erbärmlich aus. Auf dem Dach bewegten sich ungeschmeidig altbackene Figuren aus Metall: ein kleiderloser Teufel, ein gelber Drache mit zwei Köpfen, ein Troll mit übermäßigem Ohrwuchs und weitere verstörende Phantasiewesen. Darunter befand sich die Kasse und der Gang zu den Wagen. Die Geländer waren notdürftig mit künstlichem Gestrüpp und Holzlatten beklebt. Aus Interesse und der Tatsache, dass die Menschenschlange vor der Kasse – wahrscheinlich aus gutem Grunde – überschaubar war, erwarb ich eine Fahrkarte. Großes erwartete ich von dieser Geisterbahn nicht – grundsätzlich erwartete ich gar nichts. Dennoch zog mich das Geschäft an.

Nach einer Wartezeit von wenigen Minuten war ich an der Reihe und stieg in einen freien Wagen in Form eines Monsterkopfes. Bei Abgabe des Tickets setzte sich das seltsame Gefährt abrupt in Bewegung, durchstieß gewaltsam und geräuschvoll eine Metalltür mit Totenkopfmotiv, dann eine zweite schwarze. Um mich herum wurde es stockfinster und ruhig. Vom Lärm der Außenwelt hörte ich nichts mehr. Mehrere Sekunden verstrichen. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Ich stockte. Irgendetwas streifte mein Gesicht, vermutlich Stofffetzen. Eine innere Anspannung erfüllte mich. Ich erwartete mit Erschrecken einen Schock, konzentrierte mich. Nichts geschah. Urplötzlich sprang Frankensteins Monster auf mich zu, klappte wieder zur Seite. Ein Schrei des Entsetzens hallte durch den finsteren Raum. Dieser Schrei stammte von mir. Der Wagen fuhr langsam weiter, ungewöhnlich langsam. Die Ungewissheit war unangenehm. Ein Licht blitzte vor mir auf, „Chucky“ die sogenannte Mörderpuppe grinste mich an, drohte mit einem Messer. Ich bog ab. Ungemütliche Stille machte sich wieder breit. Ein lautes Hupen durchbrach ebendiese und ließ mich erneut erschaudern. Parallel dazu wurde ein scheußlicher Clown von roten Lampen angestrahlt. Stille, der Wagen glitt geräuschlos durch die Dunkelheit. Lichter blitzten wieder auf, von der Decke löste sich eine gigantische Puppe, vermutlich ein Seemonster, mit ausgestreckten Armen, fiel auf mich zu, wurde jedoch im letzten Augenblick wieder nach oben gezogen. Ich schrie zum zweiten Male. Dann fuhr ich auf ein Skelett zu, kam immer näher. Leichte Panik keimte in mir auf. Der Wagen machte keinerlei Anzeichen des Abbiegens. Schließlich wurde das Gerippe vom Wagen unsanft zur Seite gestoßen, was mich seltsamerweise ebenfalls erschaudern ließ. Direkt danach griff mich von links ein Monstrum mit laufender Kettensäge an. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Dann spürte ich zwei leichte Stöße von vorne – die erlösenden Metalltüren. Endlich sah ich wieder die beleuchtete Straße und die Menschenmassen, die sich auf ebendieser in verlangsamtem Schritttempo bewegten. Ich war regelrecht erleichtert.

Um den Aktionspegel wieder zu steigern, bewegte sich meine Gruppe in Richtung „Break Dance“. Zwei Chips hatte ich noch vom letzten Jahr übrig. Damals hatte ich mir geschworen, dieses Mal nicht alleine in einem Wagen zu sitzen. Doch natürlich verlief wieder alles anders als angedacht.

Rund 40 Personen standen um die rotierende Platte, schmiedeten vermutlich erste Schlachtpläne. Dann ging alles ganz schnell. Als sich die Bahn verlangsamte, sprangen die Ersten mit barbarischem Willen auf die Platte und eilten zu einem Wagen. Ich – mit der Situation erneut vollkommen überfordert – tat es ihnen gleich, jedoch ohne Erfolg. Mit geschätzten 24 anderen enttäuschten Menschen stieg ich ab, während die Platte wieder begann, sich schneller zu drehen. Beim Abgang stolperte ich. Missbilligend betrachtete ich die Angestellten, die die Chips einsammelten, und ständig – auch bei hoher Geschwindigkeit – lässig auf die Bahn auf- und absprangen ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren.

Wenn der „Break Dance“ das nächste Mal hielt, wollte ich wachsamer sein, alle meine Sinne aktivieren, um einen Platz zu ergattern. Noch während ich in diesen Gedanken versunken war, wurde die Platte wieder erstürmt. Ich hatte meinen Einsatz zum zweiten Mal verpasst. Rücksichtslos wurde ich an das Geländer gedrückt. Und von Außen betrachtet ähnelte das Treiben auf dem Fahrgeschäft einem großen Tumult. Egoistisch wurden Personen zur Seite gedrängt, geschubst oder festgehalten. Es sah aus, als prügelten sich Neandertaler um ein Stück Fleisch* – frei von jedweder Rücksicht und jedwedem Mitgefühl. Ich wartete bis zur nächsten Runde – erhielt jedoch wieder keinen Platz. Beim folgenden Halt ebenfalls. Es war immer das gleiche: warten, laufen, absteigen. Bei einem Versuch rammte ich sogar aus Versehen eine Gleichaltrige. Ich – anscheinend der einzige Herr seiner Sinne – sah mich um und wollte mich freundlich entschuldigen. Doch das Mädchen war verschwunden.

Nicht nur das war ein Aspekt, der mir missfiel. Auch die Tatsache, dass die Ungerechtigkeit mal wieder siegte, dass wie in der wilden Natur nur die Stärksten, Schnellsten und Skrupellosesten gewannen und dass alle anderen kaum Chancen hatten, machte mich innerlich wütend – beinahe aggressiv. Nach insgesamt sechs erfolglosen Versuchen gab ich auf. Andere ergatterten schon beim ersten oder zweiten Mal einen Platz.

Ich ging auf die Straße zurück und musste mir dann zu allem Überflusse auch noch Kritik meiner Verwandten anhören: „Du darfst nicht so lange warten! Du musst dich in die Mitte stürzen – ohne Rücksicht auf Verluste!“ Aber nein, das käme für mich nicht infrage. Genau das ist das Verhalten, das ich ständig tadelte. Ich bleibe meinen Prinzipien treu – stets.

Um ein Zeichen zu setzen, beschloss ich, ein ähnliches Fahrgeschäft namens „High Impress“ aufzusuchen. Ich bezahlte und stellte mich an eine Schlange an. Ja, das war Gerechtigkeit! Hier gab es kein Gedränge, Gedrücke und Gemenge, hier standen alle zivilisiert in einer Reihe an und warteten geduldig. Jeder bekam die Chance, eine Fahrt zu genießen.

Apropos: Genießen konnte ich die Fahrt nicht. Sie war regelrecht grauenhaft. Als ich nach einer turbulenten Fahrt wieder auf dem Boden der Realität ankam, war mir schwindelig und übel zugleich – gepaart mit Anzeichen eines leichten Schleudertraumas. Dennoch gab ich mich glücklich, schließlich hatte ich erneut bewiesen, dass Gerechtigkeit (zumindest in meinem rationalen wie konfusen Leben) siegt!

Das war's auch schon wieder mit der heutigen Anekdote und somit mit dem letzten Teil der Jahrmarkt-Dilogie. In der nächsten Blog-Episode gehe ich noch einmal genauer auf meine verschrobene Persönlichkeit ein.

Bis dahin:

Auf baldiges Wiedersehen

SEBO KLEIN

* was wir aus ethisch-moralischen Gründen nicht unterstützen sollten

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