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Ein Konfuser auf der Kirmes (Teil 1)

EPISODE 3 überarbeitet (2017)

Öffentliche Feste, Kinoabende, Konzerte: In der Regel bin ich nicht einer derer, die solche Veranstaltungen besuchen und die damit verbundene Geselligkeit lieben. In der Regel meide ich auch größere Menschenansammlungen. Doch einmal im Jahr schiebe ich alle Bedenken über persönliche Sicherheit, Hygiene und Gesundheit beiseite. Einmal im Jahr lockt die Kirmes mit bunten Buden, attraktiven Attraktionen und frittiertem Fraß zahlreiche Menschen auf die Straßen. Ich gehörte zu ihnen. Ausnahmsweise blieb ich dabei nicht inaktiv und testete zahlreiche Fahrgeschäfte und Spielstände. Ob ich den Tag auf dem Rummelplatz ohne physische und psychische Blessuren überstanden habe, verraten die folgenden Anekdoten der Jahrmarkt-Dilogie.

Wie trostlos ein solches Fest doch am helllichten Tag aussieht, dachte ich, während ich mit Verwandten ziellos durch die Straßen und Gassen des Volksfestes zog. Wie in einer Allee säumten zahlreiche Stände mit voluminöser und farbenfreudiger Außenreklame die zweckentfremdete Fahrbahn. In der Luft lag der penetrante Geruch von gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. Ich ließ meinen Blick umherschweifen, stolperte gelegentlich, da ich nicht gleichzeitig auf den Boden und entgegenkommende Menschen achten konnte, und war bemüht, möglichst viel dieser besonderen Kirmesatmosphäre aufzusaugen. Ich lauschte angestrengt, verstand wenig. Hunderte Stimmen, ein einziger Rumor prasselte immer gleich auf uns nieder. Durch diesen dichten Phrasendschungel hörte man dennoch eine seltsame Mischung mehrerer moderner, mitreißender Musikstücke. Auch die klassischen anregenden Sprüche der Rekommandeure, die sich hallend mehrfach wiederholten und die Gäste bei Laune halten sollten, drangen durch die Gesprächsfetzen. Ich hatte das Gefühl, dass es stets dieselben Stimmen waren, die Lappalien wie „Einer geht noch!“ oder „Finale, Finale, FINALE!“ brüllten.

Es war früher Nachmittag, noch tummelte sich eine recht überschaubare Anzahl vergnügungslüsterner Menschen auf dem Gelände. Die Straßen boten dennoch einen erbärmlichen Anblick. Überall lagen und standen – teilweise gestapelt – Essensreste, Flaschen, Verpackungen und Konsorten. Vor den Losständen war der Weg regelrecht mit farbigen Nieten gepflastert – und das, obwohl die nächste Müllentsorgungseinrichtung nur wenige Schritte entfernt war. An einem abgelegenerem Ort erblickte man bisweilen eine zähflüssige organische Masse, die wohl nach einem wilden Ritt auf Karussell und Co. oral ausgeschieden wurde (aber mitnichten an dieser Stelle genauer definiert werden möchte). Auch viele der kleineren Spielstände sahen bei genauerem Betrachten recht miserabel aus.

In der Nacht ist davon keine Spur. Dann wird diese Trostlosigkeit durch in allen Farben blinkenden Lichtern, Kunstnebel und dem Geruch allerlei ungesunder Leckereien überschattet. Aber noch war es nicht soweit, noch sorgte das Sonnenlicht für ausreichend Helligkeit und wenige Kirmesbesucher.

Von allen großen Fahrgeschäften unbeeindruckt, bewegte sich meine Gruppe nach einem Rundgang über das komplette Gelände zunächst zum „Derby Day“, einer Pferderennen-Bude. Dabei möchte ich eindringlich betonen, dass die dafür eingesetzten Rennpferde aus Draht und Kunststoff bestehen, dieser Wettkampf also in keinerlei Hinsicht moralisch verwerflich ist. Die Plastikfiguren werden auf der Rennbahn bewegt, indem man eine Kugel in entfernte Löcher rollt – ein absoluter Klassiker. Vom Ehrgeiz gepackt, stellte ich mich an die letzte, zwölfte Bahn, bezahlte meine Teilnahme am nächsten Rennen und rollte zur Übung ein paar Bälle. Urplötzlich startete das Spiel. Eine Sirene ertönte und die Budenbesitzerin rief (wahrscheinlich des Kettenrauchens wegen) mit rauer Stimme „Neue Runde, neues Glück!“, „Rollen was das Dingen hält!“ und andere verdammt lässig klingende Sprüche, die mich aus unerklärlichem Grunde ein wenig faszinierten. Schnell ignorierte ich jedoch das Gesagte, schließlich musste ich mich auf das Spiel konzentrieren. Ob ich gewinnen wollte, wusste ich nicht. Schließlich konnte ich mit den Stofftieren, die an Schnüren von der Decke baumelten, ohnehin nicht viel anfangen. Warum ich überhaupt mitspielte, wusste ich ebenso wenig. Schleunigst verwarf ich diese Gedanken und fokussierte mich wieder auf das Rennen. Kontinuierlich hörte ich das Rollen und Klackern der anderen elf Kugeln – und somit der Konkurrenten. Beirren ließ ich mich dadurch nicht und generierte schlussendlich einen akzeptablen dritten Platz.

Am späteren Nachmittag gingen wir zu einer Berg- und Talbahn, der „Schlittenfahrt“. Dieses Geschäft unterschied sich insofern von den herkömmlichen Karussells, als jeder Waggon während der Fahrt durch die Zentrifugalkraft nach außen geschleudert wurde, man also mehr oder minder waagerecht fuhr. Ich – leichtsinnig, wie ich war – erwarb ob einer gewissen Abenteuerlust, die mich gepackt hatte, einen Chip, stieg in einen freien Wagen und erschauderte alsbald. Was mich schockierte war ein Warnhinweis, der vor mir klebte:

Achtung

Bügel schließt sich nicht

bitte fest halten

Nicht nur die ruinöse Grammatik ließ mich beinahe kollabieren. Auch die Tatsache, dass ich in hoher Geschwindigkeit ohne ausreichende Sicherung im Kreis geschleudert werden sollte, vermochte mir nicht zu gefallen, um es äußerst euphemistisch auszudrücken. Wie konnte der TÜV ein solche Fahrlässigkeit genehmigen? Dann geschah das Unvermeidbare: Die Waggons gerieten langsam in Bewegung. Ich, mit der Situation vollkommen überfordert, testete, ob der Bügel nicht doch einrastete, klappte ihn mehrmals gewaltsam und schwungvoll gegen den Wagen – vergebens! Offenbar alle physikalischen Kräfte vergessend, fluchte ich über diese Verantwortungslosigkeit in einem deutschen Fahrgeschäft. Die Bahn beschleunigte. Ich klammerte mich verkrampft und völlig geistesabwesend um den Bügel, als hinge mein Leben davon ab – und in einer gewissen Weise war das nicht einmal allzu weit hergeholt. Was mich zudem beunruhigte, war ein seltsames Rattern und Knarren, das von der Aufhängung des Waggons ausging. Die Geschwindigkeit erhöhte sich abermals rapide, der Wagen neigte sich immer weiter nach außen, die Geräuschkulisse nahm zu. Meine Umgebung wurde undeutlich und verschwamm. Wir drehten uns immer schneller, ich krallte mich immer fester in die Eisenstange, atmete hektisch, schaute panisch und orientierungslos umher. Jeder Außenstehende dachte vermutlich, der Unhold persönlich jüge mich. Kräftig atmete ich ein, um mich zu beruhigen, hustete jedoch instinktiv wieder. Künstlicher Nebel umhüllte mich, der Fahrtwind peitschte mir noch immer ins Gesicht.

Ich sah nichts mehr, vernahm nur noch schwach leuchtende Lichter, die in der milchigen Luft an meinen Augen vorbeirasten. Und vielleicht war es genau das, was mich entspannen ließ. Langsam kam ich wieder zum Bewusstsein, zu meiner Rationalität, die sich seit den vergangenen zwei Minuten verabschiedet hatte. Ich entspannte mich langsam, atmete durch, begann, diese Schlittenfahrt gar zu genießen. Gerade jetzt verlangsamte sich die Bahn wieder, die Waggons glitten in ihre senkrechte Position zurück, die nächsten Fahrgäste positionierten sich um das Karussell. Als ebendas zum Stehen kam, stieg ein vollkommen verwirrter, beruhigter, positiv verstörter rationaler Konfuser aus. Auf dem Gehsteig taumelnd, suchte ich meine Gruppe, die sich winkend bemerkbar machte, und war doch enorm erleichtert, noch am Leben zu sein. Es war ein seltsames Gefühl, das meinen Körper nach der Fahrt erfüllte: Ein Gefühl des Lebens, ein Gefühl der Freiheit – letztlich ein Gefühl des Glücks. Ja, ich war glücklich – zumindest für kurze Zeit.

Somit gelangen wir ans Ende der heutigen Anekdote über meinen (teils entrüstenden) Besuch eines großen Volksfestes. Im zweiten Teil der Jahrmarkt-Dilogie berichte ich von einer heruntergekommenen Geisterbahn und Randalen auf dem „Break Dance“.

Bis dahin:

Auf baldiges Wiedersehen

SEBO KLEIN

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