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Damals ...

In diesem Beitrag schreibe ich über meine Grundschulzeit. Was mir in diesen vier Jahren meines Lebens alles widerfahren ist und wie ich im Nachhinein über diesen Zeitraum denke, erfahrt ihr im Folgenden. Meinungen und Kritik zu diesem Text sind im Gästebuch erwünscht.

Dass man in einem alten Schuhkarton vom Dachboden vergessen geglaubte Schätze findet, ist äußerst unwahrscheinlich. Unter den Schichten von Staub und Spinnenweben entdeckt man meist nicht die erhofften Geldreserven der Vorfahren, sondern zum Beispiel die Knopfsammlung der Großmutter oder modernde Zeitungsberichte aus längst vergangenen Zeiten. Ich konnte neulich jedoch tatsächlich einen wertvollen Schatz heben: einen Schatz der Erinnerung, der Nostalgie. In dem Karton, der mir aus purem Zufall untergekommen ist, befanden sich Fotos und Filme aus meiner Grundschulzeit. Entgeistert schaue ich auf mich, meine enorm kurzen Haare, meine ehemaligen Mitschüler. Es war ein schöner Anblick. Ein jeden kenne und erkenne ich noch, zu jedem Foto fallen mir auf Anhieb Anekdoten und Details ein. Ich kämpfe mich weiter durch die Massen an Material, bis ich eine DVD mit der Aufschrift „Krippenspiel Klasse 3“ finde. Diese Aufzeichnung möchte ich mir unverzüglich zu Gemüte führen.

Es ist ein seltsames Gefühl: Als Kind war dieses Krippenspiel einer der Höhepunkte der gesamten Grundschülerkarriere, ein Meilenstein des bisherigen Lebens, die größte Vorstellung. Heute fragt man sich, weshalb man so gedacht hat und warum man vor dem Auftritt so unheimlich aufgeregt war. Die Zuschauerzahl in der Kirche war bei der Vorstellung sehr überschaubar, die alten Menschen - ein Großteil des Publikums - verstanden durch ungünstige Mikrofonverhältnisse und Gehörsschäden ohnehin kaum etwas. Trotz alledem war die Nervosität der spielenden Kinder im Gesicht zu sehen.

Ich war Hirte. Souverän spielte ich meine Rolle nicht, in Relation zu manch anderen war meine Arbeit jedoch solide. Alle trugen hochwertige Kostüme: die Erzähler im Kommunionsanzug, die Engel mit Heiligenschein und weiß-transparenten Kleidern, die anderen Hirten in Westen und zerschlissenen Hosen. Meine Verkleidung war schauderhaft. Notgedrungenermaßen wurde mir eine intransparente braune Gardine um den Hals gebunden, die dem Geruch nach aus den 70er-Jahren stammen musste. Durch seine Länge sah der ausgediente Sichtschutz regelrecht wie ein Kleid aus. Gelegentlich rutschte ich auf dem Stoff aus. Doch das war nicht alles: ein alter Wanderhut meines Großvaters zierte zudem meinen Kopf. Den Wanderstab hielt ich fest in meiner Hand. Vom äußeren Erscheinen ähnelte ich eher einem Obdachlosen als einem Schafshüter. Es war so deprimierend!

Es ist ein seltsames Gefühl: All meine ehemaligen Mitschüler, die in der Aufnahme zu sehen sind, haben sich enorm gewandelt. Aussehen, Stimme, aber vor allem der Charakter hat sich geändert. Manche dieser Personen sehe ich noch regelmäßig, von anderen habe ich seit Jahren nichts mehr gehört.

Damals war man so unwissend, das Leben so unbeschwerlich, die Zukunft egal. Auch ich sehnsuchte* manchmal nach dieser sorgenfreien Zeit. Mir wird mal wieder bewusst: Ein rationaler Konfuser kann in seiner Art und Weise nicht geboren werden. Auch er muss sich erst zu dem entwickeln, was er später sein Leben lang bleiben wird: ein analysierender Kritiker, penibler Beinahe-Perfektionist und haltsuchender Niemand.

Nach dem Anschauen des Krippenspiels klettere ich auf den Dachboden zurück. In der Kiste nach weiteren Indizien der Vergangenheit wühlend, stoße ich auf ein Gruppenfoto der vierten Klasse. Neben den im Film gesehenen Mitschülern ist dort auch unser Klassenlehrer zu erkennen. Ich entsinne mich: Seinetwegen hatte ich in der Schule nahezu wöchentlich geweint. Dieser Lehrer hatte die Gewohnheit, bei einer fehlerhaften Antwort eines Schülers wild in den Raum zu schreien oder Kreide durch die Klasse zu werfen. Viele fanden diese Einlagen unheimlich witzig, ich kam mit diesem psychichen Druck nicht klar. Im Nachhinein klingt das für Außenstehende wahrscheinlich äußerst zweifelhaft und barbarisch. Es lässt sich aber nicht bestreiten, dass er der absolute Lieblingslehrer unser allen war. In den Pausen mussten einige Freiwillige sein maßlos verwüstetes Pult aufräumen, in jeder Stunde sang er mindestens einmal „Hello again“ oder andere Schlager. Es war eine schöne Zeit. Und gelernt haben wir auch etwas.

Vor mehreren Jahren sah ich ihn aus Zufall beim Einkaufen: Dieser vertraute Strickpullover, dieses markante Gesicht. Als auch er mich erblickte, kam er mit weit ausgestreckten Armen auf mich zu und rief lachend in seinem mainzischen Dialekt: „Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen!“

Wegen technischer Probleme konnte dieser Beitrag nie vollendet werden!

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