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Außer Kontrolle

Im Folgenden lest ihr eine Anekdote über ein Erlebnis während der Busfahrt, das mich vermutlich noch lange beschäftigen wird. Warum ich enorm von mir selbst enttäuscht wurde und wie zwei Mädchen vorbildlich gegen Unrecht und Gefahr kämpften, erfahrt ihr in der Geschichte „Außer Kontrolle“. Obwohl das Szenario wie ein schlechtes Drama klingen mag, ist alles Geschilderte beinahe exakt so geschehen.

Mit einem lautstarken Zischen glitten die ungeschmeidigen Bustüren zur Seite. Die ersten Schüler stiegen ein, ich wurde zur Seite gedrängt. Eine gewöhnliche Situation in einer gewöhnliche Umgebung - ein gewöhnlicher Morgen. Wenig später betrat auch ich (wie immer als zivilisierter Letzter) den Bus und stieg die wenigen Treppen hinauf. Im Inneren war es gewohnt heiß, gewohnt sauerstoffarm, gewohnt ungemütlich. Den Kampf um einen freien Sitzplatz hatte ich schon vor Jahren aufgegeben. Ich positionierte mich auf meinen Stammplatz neben dem Mülleimer.

Die Türen schlossen sich, der Bus setzte sich abrupt in Bewegung. Einige unerfahrenen Mitfahrenden gerieten dabei ins Stolpern. Ich konnte mein Gleichgewicht ausnahmsweise bravourös* halten. Die halbstündige Fahrt durch den finsteren Wald zur Schule begann. So weit, so unspektakulär. Doch schon in kürzester Zeit sollte sich die Busfahrt zu einem Erlebnis entwickeln, das seinesgleichen vergeblich sucht.

Vor mir befanden sich zwei Jungen, die geschätzt die siebte Klasse besuchten. Der kleinere, in T-Shirt und Jeans gekleidet, redete und spielte mit seinen Freunden, die eine Bankreihe ergattert hatten. Der andere stand mit gesenktem Kopf an der Wand, das Gesicht fast komplett im Kapuzenschatten seiner dunkelgrünen Jacke verborgen. Dieser Kapuzenjunge, wie ich ihn im weiteren Verlauf nennen möchte, hatte keine Miene verzogen, starrte gebannt in die Tiefen des Busbodens. Es war ein seltsamer, fast beängstigender Anblick.

Hinter den Kindern standen zwei Mädchen, beinahe Frauen, die wohl einige Jahre älter als ich sein mussten. Sie tippten in ungeahnter Geschwindigkeit auf ihren Smartphones herum, versendeten vermutlich Nachrichten an Freunde und Verwandte.

Ich blickte aus den Fenstern in die Schwärze des Morgens. An mir zogen vereinzelt mächtige Tannen vorbei: ein gewohnter Anblick. Als ich zurück ins Innenleben des Busses schaute, musterte ich skeptisch, wie sich der Kapuzenjunge und der kleinere gegenseitig anrempelten. Unter den Kindern entfachte ein Streit - die Ursache mir völlig unbekannt. Zunächst schenkte ich ebendem nur geringe Aufmerksamkeit. Eine kleine Rauferei war im Bus keine Seltenheit - vor allem bei jüngeren Schülern. Dieser Streit jedoch steigerte sich kontinuierlich. Immer heftiger stießen sie sich weg, der kleinere begann zu schlagen. Die Gesichter röteten sich, Adern zuckten. Es begann, zu eskalieren. Ich war mit der Situation komplett überfordert. Mit aller Kraft schlugen sie nun aufeinander ein, als sei der Gegenüber der leibhaftige Teufel, die Augen tränten vor Wut, unerbittlich fluchend kämpften sie mit allen Mitteln. Die beiden Mädchen hinter ihnen packten sie am Arm und rissen die Störenfriede mühsam auseinander - alles vor meinen fassungslosen Augen. Außer Atem und Kontrolle wehrten sie sich gegen diesen Eingriff der Vernunft, versuchten sich zu befreien. Diese Blicke, diese abgrundtief hassenden, zornerfüllten Blicke, die sie sich zuwarfen, waren unbeschreiblich. Als sich die Situation vermeindlich beruhigt hatte und sich die vorbildlichen Mädchen abwandten, kam es zu einem erneuten Angriff. Der kleinere stürzte sich mit einem barbarischen Laut auf den Kapuzenjunge, der zu Boden fiel, sich kraftlos wehrte. Eines der Mädchen griff erneut ein, zerrte den kleineren nach hinten. Plötzlich sprang der Kapuzenjunge wieder auf, griff hektisch in seine Jackentasche. Die Ereignisse überschlugen sich rasant. Mit einem Male riefen einige Gäste verängstigt „Der hat ein Messer!“, einige begannen zu weinen, die Situation eskalierte komplett, alle Insassen des Busses schrien. Im Schein der trüben Busbeleuchtung glänzte tatsächlich eine schmutzige Klinge auf, die der Kapuzenjunge in der verkrampften Hand hielt. Aus seinen Augen rannen Tränen. Vollkommen geistesabwesend ging er langsam mit diesem Klappmesser auf den kleineren Jungen zu. Seinen Gesichtsausdruck werde ich vermutlich mein gesamtes Leben lang nicht vergessen. Ich stand geistig gelähmt direkt neben dem Szenario, griff nicht ein, beobachtete angespannt. Bevor ich irgendeinen Gedanken fassen konnte, überfiel eines der Mädchen den Kapuzenjungen von hinten, stürzte ihn auf den Bauch, stellte Messer und Jungen sicher. Mein Adrenalinpegel stieg unaufhörlich an. Noch immer stand ich komplett regungslos an meinem Platz, konnte das Geschehene nicht recht begreifen - oder wollte es nicht. Durch die anhaltenden verängstigten Schreie wurde der Busfahrer auf den Angriff aufmerksam, hielt auf offener Straße an. Rasch stieg er aus seinem Fahrerstuhl, kämpfte sich durch die Massen im Gang, rief dabei etwas wie „Nehmt ihm das Messer ab!“, was schon längst erledigt war. All das ereignete sich innerhalb von Sekunden, die mir unheimlich lang vorkamen. Der Busfahrer verständigte die Polizei. An der nächsten Haltestelle wurde der Kapuzenjunge, das glücklicherweise unverletzte, aber weinende Opfer und einige Zeugen von zwei Beamten aus dem Bus geführt.

Mir wurde erst allmählich bewusst, was hier wirklich vorgefallen war. Bass schockiert setzte ich mich hin, reden konnte ich kaum. Ich war maßlos enttäuscht von mir. Ich hatte mich so verhalten, wie ich es stets tadelte. Ich stand daneben und schaute zu. Die Mädchen hingegen bewiesen umso mehr Zivilcourage, wie sie nur noch selten vorkommt.

Dieses Erlebnis lässt mich noch immer nicht ruhig schlafen. Diese Wut, diese Blicke, dieses Messer - einfach grauenhaft. Die ohrenbetäubenden Schreie, die das Szenario in seiner Drastik untermalten, klingen noch immer in meinen Ohren. Wie kann ein Mensch nur so wütend, hasserfüllt, geistesabwesend und verstört sein, dergleichen zu tun? Wie kam es zum Streit? Was hätte ich tun sollen? Wie kann ich mich in einer ähnlichen Situation in Zukunft verhalten? All das sind Fragen, die mir einige schlaflose Nächte bereiteten.

Und somit gelangen wir ans Ende unseres heutigen Beitrags. Meinungen und Kommentare zu diesem Vorfall könnt ihr gerne im Gästebuch kundtun. In der nächsten Woche erwartet euch noch die zweite Adventsüberraschung an Heilig Abend.

Bis dahin:

Auf baldiges Wiedersehen

S. Klein

* gekonnt, meisterhaft

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